Die traurige Reise der Marke Deutschland in Deutschland

Marke People Data & Tech Lifestyle
11.03.2024

Himmelhoch deutsch, zu Tode betrübt

Ist es nicht seltsam? Im Moment feiert mit der AfD eine Partei Umfrageerfolge, die sich patriotisch nennt, aber öffentlich kein gutes Haar an Deutschland lässt. Kulturell am Boden, Wirtschaft hinüber - glaubt man der AfD, hat Deutschland es eigentlich schon hinter sich. Und viele glauben das tatsächlich. Was ist da passiert mit der Marke Deutschland bei den Deutschen? Mit unserem Selbstbild? Was hat uns bloß so ruiniert? Versuch einer Selbstanalyse.

Vom Hype an abwärts: das Sommermärchen

Wenn wir uns mit dem innerdeutschen Abstieg der Marke Deutschland beschäftigen, müssen wir am Höhepunkt des Deutschseins anfangen. Und das war unbestritten der Sommer 2006. Das Sommermärchen. Eine Zeit, von der die, die dabei waren, immer mit einem Raunen in der Stimme sprechen.
Noch nie in der Geschichte und nie wieder danach war es so geil, deutsch zu sein. Diese WM drückte auf alle Triggerpunkte des deutschen Selbstverständnisses. Die Wirtschaft brummte, die WM war perfekt organisiert und die Nationalmannschaft war auch noch richtig gut. Aber da war noch mehr.
Wir waren nicht nur deutsch wie immer, wir waren plötzlich auch noch modern, locker und, ja, cool. Ganz Deutschland war gefühlt in Schwarzrotgold gehüllt, aber diesmal war es kein Nationalismus, sondern entspannte Begeisterung. Auf den Partymeilen haben wir vier Wochen lang mit Menschen aus allen Ländern bei strahlendem Sonnenschein gefeiert. Der Partyotismus war geboren und wir haben alle eingeladen. Die Welt war zu Gast bei Freunden und wir waren mit der ganzen Welt befreundet. Dazu ein junges Team, das dieses neue Deutschland perfekt repräsentierte. Denn als Oliver Neuville auf Vorlage von David Odonkor gegen Polen in letzter Sekunde den Siegtreffer gegen Polen erzielte, da wurde gleichsam in Eckkneipen und Dönerbuden gejubelt.
Wir hatten seit einem Jahr eine Frau im Kanzleramt, die bei deutschen Toren sympa- thisch ungelenk jubelte, und einen Bundestrainer, der nicht nur ganz deutsch einen Plan hatte, sondern gleichzeitig kalifornische Lockerheit versprühte. Und selbst als das Team im Halbfinale gegen Italien ausschied, blieb Deutschland fröhlich und hat am Ende einfach den dritten Platz gefeiert. Fußball war irgendwann nur noch der Anlass. Am Ende haben wir uns selbst gefeiert.

 

Doch nicht alles Freunde da draußen – die Finanzkrise

Zwei Jahre nach der WM ist immer noch alles cool. Die Wirtschaft brummt zu Beginn des Jahres und unsere heißgeliebte Nationalmannschaft erreichte bei der EM das Finale. Im Finale verlieren wir zwar gegen Spanien, aber das war okay Es gibt wieder Fahnen überall, es gibt Public Viewing - party as usual eben. Nicht mehr so frisch, nicht mehr so rein wie 2006, aber trotzdem immer noch schön. Obama kommt nach Berlin, wird gefeiert wie die Nationalelf und dann auch noch US-Präsident. Die Bush- Jahre sind vorbei, die Welt ist wieder gut.
Und dann ist September. In New York kollabiert eine Bank, die lustigerweise so heißt wie unser Nationaltorhüter. Das ist aber auch das Letzte, was daran lustig ist.
Anfang Oktober treten Angela Merkel und Peer Steinbrück vor die Kameras, um den Deutschen zu versprechen, dass ihre Spareinlagen sicher sind. Plötzlich fühlte sich diese Krise, die man vorher nicht wirklich verstanden hatte (und hinterher auch nicht) sehr bedrohlich an.
Für die Deutschen hat das aber noch einen anderen Effekt gehabt. Plötzlich mussten wir feststellen, dass doch nicht immer alles nur schwarz-rot-geil ist. Dass wir doch nicht nur Freunde überall auf der Welt haben. Dass es leider doch noch einige Arschlöcher gibt und dass die eine echte Gefahr sein können.

 

Die Eurokrise – the return of „der hässliche Deutsche“

Als Folge der Finanzkrise gehen auch die Finanzierungsmodelle einiger Länder über die Wupper. Bekanntestes Beispiel: Griechenland. 2010 kollabieren die Staatsfinanzen und stürzen den Euroraum in eine tiefe Krise. Zähneknirschend springen finanzstarke Euroländer, allen voran Deutschland, mit hunderten von Milliarden Euro ein.
Dafür verlangen die Geberländer, allen voran Deutschland, Griechenland harte, sehr harte Sparmaß- nahmen ab und werden dafür von großen Teilen der griechischen Bevölkerung, die durch die Sparmaßnahmen in große Not geraten, leidenschaftlich gehasst.
In der Eurokrise passiert aber noch mehr. Der fröhliche Partyotismus trollt sich und macht Platz für den Voldemort des deutschen Selbstverständnisses: Der Chauvinismus kriecht langsam wieder zurück. Wir sind gut und stark, die anderen sind schwach, aber gemein und nutzen uns aus. Was mit dem Focus-Titel „Betrüger in der Eurozone“, auf dem uns eine Aphrodite-Statue den Mittelfinger zeigt, beginnt, greift die Bild dankbar auf und ersinnt für ihre Wut-Kampagne die Pleite-Griechen, die uns belügen und auf der Tasche liegen.
Schon wieder sind wir doch nicht mit allen befreundet. Eines ist aber anders als 2008: Dieses Mal sind wir die Arschlöcher.

 

Deutschsein am Boden – der Flughafen BER

Wir sind nicht cool, wir sind nicht mit allen befreundet. Wir haben es probiert, hat nicht geklappt. Aber wir können uns auf unsere klassischen deutschen Stärken verlassen. Wir sind fleißig, können verdammt gut organisieren, unsere deutschen Ingenieure bekommen alles hin und gut im Fußball sind wir auch noch.
Und dann kam BER. Dieser verfluchte Flughafen, der einfach nicht fertig werden wollte. Das wäre alles nicht so schlimm gewesen, wenn es nicht ausgerechnet dieser Flughafen gewesen wäre. Der für die Hauptstadt. Ein nationales Symbol. Und wenn dieser Flughafen während seines Baus nicht alles eingerissen hätte, was Deutsche am Deutschsein gut fanden.
Die Planung, die Organisation und die Durchführung dieses Projekts waren eine Katastrophe. Nichts zu sehen von Organisationsstärke. Dann sollte auch mit Hartmut Mehdorn ausgerechnet der ehemalige Chef der Deutschen Bahn als neuer Verantwortlicher für Pünktlichkeit sorgen. Ein Scheitern mit Ansage.
Und natürlich die Sache mit der Brandschutzanlage. Kurz vor der geplanten Eröffnung des Flughafens 2012 musste doch noch mal verschoben werden, weil die Brandschutzanlage nicht richtig funktionierte. „Verschoben“ ist übrigens arg verniedlichend. Die Behebung dieses Fehlers und in der Folge eine ganze Reihe weiterer Mängel haben die Eröffnung des BER um ganze acht Jahre verzögert. Ein herber Schlag für das nationale Vertrauen in die deutsche Ingenieurskunst.
Der noch härter wird, als China es 2019 schafft, mit Peking-Daxing nach nur vier Jahren Bauzeit den größten Flughafen der Welt fertigzustellen. Die öffentliche Wahrnehmung davon ist so: Während wir es in acht Jahren nicht schaffen, einen Fehler an einem Flughafen zu beheben, bauen die Chinesen in vier Jahren ein kompletten, viel größeren und viel cooleren Flughafen.
Und damit ist klar: Mit Organisationsstärke, Pünktlichkeit und weltweit unübertroffener Ingenieurskunst hat BER drei zentrale Brand Assets für die Marke Deutschland bei den Deutschen schwer, sehr schwer beschädigt.

Beschiss made in Germany – der Dieselskandal

Neben Organisationstärke und Ingenieurskunst gehört auch strenger Umweltschutz zu den Dingen, auf die Deutsche in Sachen Deutschland stolz sind. Ein bisschen ist es Volkssport, im Urlaub kopfschüttelnd auf volle Mülleimer zu blicken, weil dort – Gott bewahre – nicht getrennt wird.
Umweltschutz war unsere letzte Markenbastion gegenüber China. Vielleicht können die schneller und besser Flughäfen bauen. Aber doch nur, weil die sich kein bisschen um Umweltschutz scheren.
Ach ja, unsere Autos sind natürlich auch besser. Chinesische Autos sehen scheiße aus und sind rollende Todesfallen. Mit diesen unausgesprochenen nationalen Mantras haben wir uns lange muckelig in der sich verändernden Welt selbst beruhigt. Dann aber hat Volkswagen betrogen. Oder besser: Dann haben nahezu alle deutschen Autobauer betrogen und VW wurde als erste Marke erwischt. Wie auch BER war der Dieselskandal ein Schlag gegen eine Vielzahl deutscher Markenwerte. Wieder waren deutsche Ingenieure an einer nationalen Schande beteiligt. Nicht nur, weil sie eine Software entwickelt haben, die Abgasuntersuchungen am Fahrzeug erkennt und dann den Schadstoffausstoß manipuliert, sondern auch, weil es deutsche Autoinge- nieure nicht hinbekommen haben, Dieselmotoren zu bauen, die den gesetzlichen Vorgaben entsprechen. Kein Anstand, keine Qualität – der Dieselskandal hat den Glanz von „Made in Germany“ bei den Deutschen selbst ganz schön verblassen lassen.

Corona, erste Welle: Wir haben’s immer noch drauf

Zu jeder guten Tragödie gehört ein Punkt, an dem es eine Gelegenheit gibt, die ganze Geschichte noch zum Guten zu wenden, die dann aber verpasst wird, verpasst werden muss. Corona könnte die Peripetie der deutschen Markentragödie sein. Als 2020 dieses neue Virus um uns herum wütet, bleibt Deutschland zunächst außen vor. Zuerst sehen wir explodierende Fallzahlen in Italien und sind schockiert von den Bildern aus Bergamo. Dieser Bilderschock wird sicherlich seinen Teil dazu beigetragen haben, dass die Deutschen sich im ersten Lockdown so diszipliniert verhalten haben. Das Ergebnis: Wir sind durch die erste Welle richtig gut durchgekommen. Die ganze Welt schaute anerkennend nach Deutschland. Wir waren wieder wer. Dank deutscher Tugenden.
Aber da war noch mehr. Ein Hauch von 2006 wehte durch das Land. Nur ohne Gäste. Ein Gemeinschaftsgefühl machte sich breit. Gemeinsam kommen wir dadurch. Wir homeofficen das Virus gemeinsam ins Nirvana und zwischendurch klatschen wir für Krankenpfleger*innen, Kassierer*innen und Erzieher*innen. Für eine kurze Zeit gab es diesen neuen Geist im Land, bei dem viele die Hoffnung hegten, dass diese gemeinsame Pandemieerfahrung das Land zum Besseren wandeln würde. Dass wir auch danach mehr aufeinander und einander achten. Dass wir die Digitalisierung voran- treiben. Dass wir das mit dem Klima hinbekommen. Dass systemrelevante Berufe besser bezahlt werden. Dass es gerechter zugeht.

Corona, alle anderen Wellen: scheiße, doch nicht

Für all das, was dann folgte, gibt es im Deutschen das perfekte Wort: tja.
Deutschland war sehr schnell nicht mehr Weltspitze bei niedrigen Infektionszahlen und das Virus legte gnadenlos alles offen, worin wir nicht und auch nicht mehr gut waren.
Beispiel Digitalisierung: Während in vielen asiatischen Ländern erfolgreich Apps für das Pandemiemanagement eingesetzt wurden, waren deutsche Gesundheitsämter mit ihren Faxgeräten schnell am Limit. Dazu dauerte es gefühlt ewig, bis auch Deutschland eine Corona-App hatte. Der Grund: Datenschutz. Tja.
Auch lustig: Es gab auch einige afrikanische Länder, die das digitale Auswerten der Fallzahlen besser hinbekamen als deutsche Gesundheitsämter. Mit einer Software aus Deutschland. Tja.
Beispiel Organisationsstärke: Die Bundesregierung hat es damals nicht geschafft, rechtzeitig genügend Schutzmasken für die Bevölkerung zu beschaffen. Andere Länder, wie die USA, sind damals bei der Beschaffung planvoller und robuster vorgegangen als Deutschland. Das Ergebnis: Deutschland hat für zu wenig Masken viel zu viel Geld bezahlt. Tja.
Überhaupt hat der Markenwert „Organisationsstärke“ in der Pandemie mit am meisten gelitten. Nachdem Deutschland die Maskenknappheit überwunden hatte, hatten wir bald das nächste Versorgungsproblem: Impfstoff. Wenn man mal obskuren Pillepalle wie den russischen „Impfstoff“ Sputnik außen vor lässt, war Comirnaty von BionTech aus Mainz und dem US-Pharmakonzern Pfizer Ende 2020 der erste Impfstoff gegen Corona, der wirklich funktioniert hat. Ähnlich wie schon bei den Masken hatte auch beim Impfstoff das Bundesgesundheitsministerium eine frühzeitige, flächendeckende Versorgung mit dem Impfstoff nicht sicherstellen können, weil andere Länder klügere Verträge mit den Herstellern ausgehandelt hatten. Während also in den USA, Großbritannien und Israel alle fröhlich ge- impft wurden, wurden bei uns Rangfolgen eingeführt, wer zuerst geimpft werden durfte. Tja. Tja. Tja.

 

Das ist das Ende: die Fußball-WMs in Russland und Katar

Organisationsstärke? Können wir durchstreichen. Ehrliche Produkte mit Ingenieurshöchstleistungen aus Deutschland? Schwer beschädigt. Immerhin bleibt uns der Fußball. Da sind wir wenigstens noch absolute Weltspitze.
Kleiner Spaß. Das ist natürlich auch vorbei. Sowohl 2018 als auch 2022 scheidet die deutsche National- elf so sang- und klanglos wie peinlich in der Vorrunde gegen Fußballgroßmächte wie Mexiko oder Japan aus. Und wenn man die letzten Leistungen betrachtet, sieht es für die EM 2024 in Deutschland nicht wirklich gut aus.
Allerdings gab es diese Situation auch fast genauso vor der WM 2006, als die Bild noch kurz vor dem Turnier eine Wut-Kampagne gegen „Grinsi-Klinsi“ fuhr und attestierte: „Unser Fußball ist nur noch zum Weinen.“
Was dann geschah, war der Anfang eines neuen Deutschlands. Vielleicht schaffen wir es ja noch mal. Und passen dann besser auf unsere Marke auf.

Autor
Kai Helzer
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