Nationen als Marke. Deutschland als Marke. Eine Annäherung.

Marke People Data & Tech Lifestyle
11.03.2024

Am Morgen des 29. August 2005 erreicht der Hurrikan Katrina New Orleans. Was der Wirbelsturm mit der Stadt im US-Bundesstaat Louisiana anrichtet, ist schwer in Worte zu fassen: 80 Prozent des Stadtgebiets werden überschwemmt. Tausende Menschen müssen fliehen. Andere sitzen auf dem Dach ihrer Häuser fest. Nahezu 2.000 Menschen verlieren ihr Leben. Deutsche Medien berichten tagelang, auch über die spektakulären Rettungsmaßnahmen. Und Wochen später spricht ein schlammverschmierter, müder und ausgelaugter Feuerwehrmann folgenden Satz in die deutsche TV-Kamera: We need German Engineering.

Zum Deutschen Arbeitgebertag am 17. Oktober 2023 fordert Arbeitgeberpräsident Dr. Rainer Dulger die regierende Ampel-Koalition zum Handeln auf. Laut einer repräsentativen Umfrage des Meinungsforschungsinstituts forsa im Auftrag des BDA macht sich die große Mehrheit der befragten Unternehmer (82 %) Sorgen um den Standort Deutschland: „Wir brauchen ein gemeinsames Handeln für unseren Standort. Als Unternehmer will ich wissen, wie es zukünftig weitergeht. Ich muss die Weichen richtig stellen. Die Standortbedingungen stimmen nicht mehr. Schönreden ist keine Alternative zum Handeln“, so Dulger wörtlich. Eine große Mehrheit der Unternehmer (70 %) und der Bevölkerung (74 %) fordert eine Verbesserung im Bildungs- und Schulwesen. 85 % der Unternehmer und 60 % der Bevölkerung plädieren zudem für einen Abbau von Bürokratie. Den Wunsch nach Modernisierung und Digitalisierung der öffentlichen Verwaltung äußern 69 % der Unternehmer und 52 % der Bürger. 88 % der befragten Unternehmer und 79 % der Bürger geben an, dass die Bundesregierung keine durchdachte Strategie zur Bewältigung der aktuellen Krisen hat. Zwei Statements zur Marke Deutschland, zwischen denen 18 Jahre liegen.

Nationen sind Marken.
Und funktionieren auch so

Nationen verfügen über alles, was Marken brauchen: Corporate Identity und Corporate Design, in Deutschland zum Beispiel das Grundgesetz, die oft beschriebene typisch deutsche Mentalität, Schwarzrotgold und die Nationalhymne. Nationen besitzen ein Image, es eilt ihnen ein Ruf voraus. Sie geben Versprechen und bieten Leistungen, in denen sich dieses Versprechen manifestiert. Nationen dienen der Identifikation, sie geben uns Orientierung und bieten im wahrsten Sinne des Wortes eine Heimat. Sie verkörpern Werte, zeigen Haltung, beziehen Stellung und agieren normalerweise im Sinne ihrer Bürgerinnen und Bürger. Daraus ergeben sich oft Klischees: Die USA stehen nach wie vor für den Mythos, es dort schaffen zu können. Frankreich ist Luxus, Italien La Dolce Vita, Lebensfreude. Und Deutschland? „Made in Germany“, „German Engineering“. Qualität, Stabilität, Zuverlässigkeit. Das Land, in dem immer noch alles funktioniert. Menschen machen in Befragungen die Attraktivität von Nationen an konkreten Punkten fest. Auf Rang 1: wirtschaftliche Stabilität und Aufstiegschancen. Auf den weiteren Plätzen: Lebensqualität, also Gesundheitssystem, Bildung, soziale Sicherheit; politische Stabilität, kulturelle und soziale Vielfalt, Innovation, Forschung, Technologie, Infrastruktur. Auf den hinteren Plätzen: kulturelles Erbe, internationale Beziehungen, Menschenrechte und soziale Gerechtigkeit, Attraktivität als Reiseziel, Naturschönheit, Umweltschutz. Eine Auflistung, die eindeutig zum Ausdruck bringt, was Menschen von ihren Nationenmarken erwarten. Und das hat, wenig überraschend, viel mit Verlässlichkeit, Stabilität und grundsätzlicher Versorgung zu tun. Damit wird auch klar, dass viel von dem, worüber hier geschrieben wird, eigentlich nur für Nationenmarken gelten kann, die über eine gesunde Wirtschaft und ein Mindestmaß an Demokratie verfügen. Denn nur dann entstehen Wohlstand und Aufstiegschancen und werden auch einigermaßen gerecht verteilt. Die Staaten schaffen damit die Rahmenbedingungen für ein lebenswertes Leben. Und werden ihrer Grundfunktion als Marke gerecht, gemessen an den Bedürfnissen ihrer Zielgruppen.

 

Wie Nationenmarken bewertet werden

Indizes und Rankings zu Nationen gibt es tatsächlich viele. Auch solche, die Länder mit den Maßstäben einer Marke messen. Brand Finance, laut eigener Aussage „The largest Brand Value Database in the World“, veröffentlicht jährlich ein unter besonderen Blick- winkeln erstelltes Ranking der wertvollsten Nation Brands. Staaten werden finanziell eingeschätzt und mit einem Wert versehen. Ähnlich wie Brand Finance das bei klassischen Marken tut, entsteht so für die Nationen eine Art imaginärer Kaufpreis. Plus: Bonitätseinstufung. Deutschland rangiert hier hinter den USA und China auf Rang drei. Der Anholt-Ipsos Nation Brands Index (NBI) befragt seit 2008 jährlich ca. 60.000 Menschen über 18 in 20 Ländern zur Wahrnehmung und zum Image von 60 aus- gewählten Nationen. 2022 gehen die Imagewerte der Länder zwar insgesamt zurück, aber Deutschland belegt im Nation Brands Index zum achten Mal insgesamt und zum sechsten Mal in Folge den ersten Platz. Bedeutet: In den vergangenen sechs Jahren war Deutschland jeweils die Nation mit dem weltweit besten Markenimage. Wie schon in den Vorjahren liegen Deutschlands Reputationsstärken vor allem in den Bereichen Exporte, Einwanderung und Investitionen sowie Kultur. Besonders positive Bewertungen gibt es für das gute Gefühl, deutsche Produkte zu kaufen, die Beschäftigungsfähigkeit der Deutschen, den deutschen Sport sowie die Attraktivität von Investitionen in deutsche Unternehmen. Ben Page, CEO von Ipsos, sagt: „Auch wenn Deutschland für einige ein wenig aufregendes Land ist, bleibt es insgesamt erneut die Nummer eins in der Welt. In unsicheren Zeiten hat Vorhersehbarkeit durchaus etwas für sich.“ 2023 verändert sich das Bild: Deutschland wird von Japan auf den zweiten Platz verdrängt. Dennoch: Bei den Indizes Ex- port, Einwanderung und Investitionen, Governance und Kultur erreicht Deutschland die ersten fünf Plätze mit einer positiven Wahrnehmung seiner sportlichen Exzellenz, seiner Produktattraktivität und seines Bei- trags zur Verringerung der weltweiten Armut. Das Best Countries Ranking von U.S. News wird in Zusammenarbeit mit WPP und der Wharton School der University of Pennsylvania er- stellt. Hierbei handelt es sich um eine Umfrage, bei der mehr als 17.000 Menschen in 36 Ländern verschiedene andere Länder mit spezifischen Attributen assoziieren. Diese Attribute reichen von dynamisch, sicher und führend bis zu sorgt für Menschenrechte, wirtschaftlich stabil und der sozialen Gerechtigkeit verpflichtet. Platz eins belegt hier die Schweiz. Gefolgt von Kanada, Schweden, Australien, den USA und Japan. Auf Rang sieben kommt dann Deutschland. Interessant, dass an der Schweiz als Sieger vor allem die Konsistenz als Nationenmarke betont wird. Dazu erfahren Sie in diesem Heft noch mehr. The World Intellectual Property Organization (WIPO), also die Weltorganisation für geistiges Eigentum, ist das globale Forum für Dienstleistungen, Richtlinien, Informationen und Zusammenarbeit im Bereich des geistigen Eigentums. Dabei handelt es sich um eine Organisation der Vereinten Nationen. Sie zeichnet verantwortlich für den Global Innovation Index, für den zum Beispiel die Anzahl wissenschaftlicher Publikationen, die Summe der in Forschung und Entwicklung investierten Gelder, die Zahl der Venture Capital Deals und internationalen Patentanmeldungen erhoben werden. Aber auch Faktoren wie Kosten für erneuerbare Energien, Preise elektrischer Batterien, Konnektivität, Anzahl betriebener Roboter und E-Autos, Lebenserwartung oder CO2-Ausstoß fließen in die Bewertung ein. Dieses Ranking führt ebenfalls die Schweiz an. Und Deutschland taucht hinter Schweden, den USA, Großbritannien, Singapur, Finnland und den Niederlanden auf Rang acht auf. Also kann man doch mit Fug und Recht behaupten: Es gibt noch Luft nach oben, aber die Marke Deutschland steht nicht schlecht da. Eher sogar richtig gut.

 

Deutschland. Die wichtigste B2B- Marke, die wir haben

Dieses richtig gute Dastehen ist umso wichtiger, als dass Nationen, wie alle an- deren Marken auch, vor allem Vertrauen bilden und rechtfertigen müssen. Auch sie signalisieren: Mir kannst du vertrauen. Wenn du dich für mich entscheidest, machst du alles richtig. Für dein eigenes Wohl und im B2B-Sinn für das Wohl deines Unternehmens. Keine Nation wird auf Dauer funktionieren können, wenn sie nicht zumindest auf ein Grundvertrauen innerhalb der eigenen Bevölkerung und der darin ansässigen Unternehmen bauen kann. Also gehört zur Aufgabe einer Nationenmarke, dieses Vertrauen aufzubauen und zu halten. Das gilt zumindest für die demokratischen Staaten, in denen Menschen überhaupt eine Wahl haben. Vertrauen, Orientierung und Identifikation mit dem, was das Land tut, wofür es steht und wohin es sich bewegt, erscheinen aus diesem Blickwinkel unerlässlich. Tatsächlich kann man bei näherer Betrachtung wohl behaupten, dass es die hauptsächliche Aufgabe einer Nationenmarke ist, den Glaubwürdigkeits- und Vertrauensrahmen für alles zu bilden, was den Staat ausmacht. Im wirtschaftlichen Sinne für die Marken, die man verkaufen, exportieren will, und für alle Gelder, die ins Land fließen und den Wohlstand sichern sollen. Und wenige Nationenmarken haben dabei eine derartige Strahlkraft zu bieten, die sich für Deutschland mit „Made in Germany“ auf den Punkt bringen lässt.

Etwas passt da nicht

Ganz anders jedoch die derzeitige Stimmung im Land, die interne Wahrnehmung der Marke Deutschland. Statista veröffentlicht am 20. Oktober 2023 eine Rangliste der Themen, die Menschen in Deutschland vor allem bewegen. (Die Prozentzahlen kennzeichnen den Anteil der Stimmen fürs jewei- lige Thema.)

Wie sagte der Arbeitgeberpräsident? 88% der befragten Unternehmer und 79% der Bürger geben an, dass die Bundesregierung keine durchdachte Strategie zur Bewältigung der aktuellen Krisen hat. Sehr wahrscheinlich ein Schlüsselsatz für die Beschreibung des Zustands, in dem sich die Marke Deutschland aktuell befindet. Die Menschen suchen derzeit vergebens die Sicherheit und die Stabilität, die sie von ihrer Nation gewohnt sind. Sie nehmen ihr Land anders wahr. Brand Performance der und Brand Experience mit der Marke Deutschland scheinen in Schieflage. Und diejenigen, die für die Steuerung der Marke maßgeblich verantwortlich sind, machen ihren Job nicht so, wie viele das gerne hätten. Wo geht es hin, das im Nation Brands Index beschriebene gute Gefühl, deutsche Produkte zu kaufen? Was ist, angesichts der derzeitigen Diskussionen um die Art, wie wir arbeiten, mit der Beschäftigungsfähigkeit der Deutschen geschehen? Wie funktioniert ein Land, in dem sich lange Schlangen mit endlosen Wartezeiten vor Behörden und Ämtern bilden? Wie performt der deutsche Sport aktuell und wie attraktiv ist es angesichts des massiven Facharbeitermangels für Investoren tatsächlich, Investitionen in deutsche Unternehmen oder deutsche Standorte zu tätigen?

Reden wir über VUCA

VUCA steht als Abkürzung für Volatilität, Unsicherheit, Komplexität (Complexity) und Ambiguität. Dieses Konzept des US-Militärs stammt aus der Zeit des Kalten Krieges. Es beschreibt eine Welt, in der es kaum Gewissheiten und keine einfachen Entscheidungen gibt. Während und nach der Pandemie haben sich eine Reihe globaler Trends zu einer kritischen Masse zusammengeballt: Umwelt- und Rohstoffkrise, Digitalisierung und Technologisierung, Wertewandel und geopolitische Verschiebungen, dysfunktionale Lieferketten, weltweite Inflation – die 2020er-Jahre markieren eine Umbruchphase, die Politik, Gesellschaft und Wirtschaft vor große Herausforderungen stellt. Verstärkt wird das alles durch den russischen Überfall auf die Ukraine im März 2022 und den Überfall der Hamas auf Israel im Oktober 2023.
Die Zeit, in der wir leben, wird als Zeitalter der Veränderung in die Ge- schichte eingehen. Vielleicht sogar als der Beginn einer unabsehbar langen Periode, in der sich die gesamte Menschheit, getrieben von verschiedenen Faktoren, in permanenter Transition befindet. Das Millennium Project, ein globaler partizipatorischer Thinktank, der 1996 gegründet wurde, listet 15 globale Herausforderungen für die Menschheit auf. Im Prinzip alles Themen, die uns seit Jahren täglich begegnen: nachhaltige Entwicklung und Klimawandel, Zugang zu sauberem Wasser für alle, Wachstum der Weltbevölkerung und die Ressourcen unseres Planeten, echte Demokratien statt autoritärer Systeme, Bedrohung durch neue Krankheiten, Bildung für alle, gemeinsame Werte und neue Sicherheitsstrategien zur Eindämmung ethnischer Konflikte, Terrorismus und Einsatz von Massenvernichtungswaffen, Rechte und Status der Frauen, Verhinderung organisierter Kriminalität, stabile und bezahlbare Energieversorgung etc., etc.
McKinsey & Company schreiben im Dezember 2021 in einer Studie zu deutschen B2B-Marken: „Die deutschen Industrieunternehmen steuern in einen immer schärferen globalen Wettbewerb: um Innovationen, um Kunden und Aufträge, um Preise und Rohstoffe und um Fachkräfte und Talente. Kunden und Mitarbeitende aller Industriesektoren erwarten heute agile Arbeitsweisen sowie digitale und vernetzte Produkt- und Serviceerlebnisse. Gleichzeitig ist der Anspruch aller Marktteilnehmer an die gesellschaftliche Verantwortung und an nachhaltiges Wirtschaften der Unternehmen gestiegen.“ Hand aufs Herz: Könnte man diesen Satz nicht nahezu eins zu eins auf die Nationenmarke Deutschland übertragen? Ungefähr so: Deutschland steuert in einen immer schärferen globalen Wettbewerb: um Innovationen, um Firmenansiedlungen und Start-ups, um Preise und Rohstoffe und um qualifizierte Zuwanderung durch Fachkräfte und Talente. Letztlich um Wohlstand. Die deutsche Bevölkerung erwartet moderne, agile Dienstleistungen des Staates sowie digitale und vernetzte Produkt- und Serviceerlebnisse. Gleichzeitig ist der Anspruch aller an die gesellschaftliche Verantwortung und an nachhaltiges Wirtschaften der handelnden Personen gestiegen. Und: Eigentlich will niemand diese Veränderungen. Alle hätten lieber, dass es so bleibt, wie es war. Wofür wird die Schweiz nochmal im Best Countries Ranking am meisten geschätzt? Richtig, für ihre Konsistenz.
McKinsey & Company weiter: „Wollen Marken einen echten Wertbeitrag für ihr Unternehmen liefern, müssen sie attraktive Visionen formulieren und nachhaltige Markenerlebnisse schaffen, die sich im Wettbewerb von anderen Marken abheben und Kunden gewinnen. Kurz: In der VUCA-Welt gewinnen Marken für die Industrie enorm an Bedeutung.“ Aber nur, wenn sie sich mit offenem Visier den Herausforderungen der heutigen Zeit stellen und konsequent handeln.

 

Deutschland als Marke. Es ist schwierig

Es ist deshalb schwierig, weil Deutschland, wie festgestellt, immer noch gut da- steht. Viel besser, als es die Nation selbst wahrnimmt und empfindet. Das Land hat eigentlich alles noch fest im Griff und — auch wenn Populisten es uns ganz anders weismachen wollen — keinesfalls die Kontrolle verloren. Andererseits wird die Marke zweifellos derzeit ungewöhnlich stark durchgerüttelt. Und wir haben eben auch viel zu verlieren. Deutschland befindet sich tatsächlich nicht auf dem Niveau, das die Marke schon hatte. Schlüsselindustrien, wie zum Beispiel Autobauer und ihre Zulieferer, vermitteln momentan nicht das Gefühl, als hätten sie einen Plan, wie sie sich selbst und uns alle in eine erfolgreiche Zukunft führen könnten. Wir sind nicht zufrieden mit uns selbst, wir haben das Gefühl, unsere Privilegien zu verlieren, Abstriche machen zu müssen, uns rückwärtszubewe- gen. Selbst wenn man bedenkt, dass die Marke eine überaus lange, mindestens zehn, zwölf Jahre andauernde überaus erfolgreiche Phase hinter sich hat, geradezu fette Jahre, in denen es einfach lief, ist diese Gefühlslage doch sehr bitter. Und für alle offensichtlich schwer zu verdauen. (Wie schwer, das erfahren Sie im Gespräch mit Stephan Grünewald vom rheingold Institut ab Seite 50.)
Es ist aus einem anderen Grund aber noch schwierig. Wir befinden uns nun mal inmitten der ausführlich beschriebenen VUCA-Welt. Und da ist eine Nationenmarke oftmals auch nicht mehr in der Lage zu agieren. Sondern maximal zu reagieren.

 

„Made in Germany“

Es passt perfekt in diesen Kontext, dass dieses unschätzbar wertvolle Siegel, dass der werthaltige Markenkern, den Deutschland seit langem verkörpert, nicht das Ergebnis einer eigens entwickelten Strategie ist. Vielmehr bekam Deutschland dieses Etikett im späten 19. Jahrhundert aus England angeheftet. Es sollte britische Verbraucher vor minderwertiger deutscher Ware schützen. Dass die deutschen Unternehmen sich nicht dauerhaft damit zufriedengeben würden, schlechte Qualität zu produzieren, und diese Aussage im Lauf der Zeit mit einer völlig neuen Bedeutung füllen würden, war wahrscheinlich absehbar. Dass man sich aber nie darum kümmerte, bis heute keine Standards definiert hat, wie „Made in Germany“ zu verstehen ist, was man dafür tun muss, um es berechtigterweise zu führen, dass niemand bestimmt hat, woran man es erkennt und welche Inhalte und Versprechen damit verknüpft sind, ist schlicht fahrlässig. Und ein großer Teil unseres heutigen Problems. Die Marke bekommt eine Botschaft geschenkt, die Menschen geben ihr mit Erfindungsreichtum, Fleiß, Geschick eine neue, differenzierende, wiedererkennbare, relevante Bedeutung und man überlässt sie dann ihrem Schicksal. Keine strategische Grundlage, keine Markenprofilierung, keine Imagemaßnahmen außer dem Erlebnis der Produkte und Leistungen, die für „Made in Germany“ stehen. Und wer für „Made in Germany“ steht oder stehen soll, überlässt man ebenfalls anderen. Niemand fühlt sich dafür zuständig, keiner kümmert sich, es läuft ja schon irgendwie. Aber nein, das haben wir ja festgestellt: Es läuft irgendwie ziemlich unrund.

 

Deutschland fehlt das Markenbewusstsein

Und dieses fehlende Markenbewusstsein ist tief in unserer Seele verankert. Zum einen haben wir aus bekannten Gründen ein Problem mit allem, was stolz macht und Stolz ausmacht. Wir haben aber auch kein Gefühl dafür, was Marken auslösen können und wie man sie für sich arbeiten lassen kann. Wer jahrelang für die Crème de la Crème der deutschen B2B-Industrie gearbeitet hat, weiß, wovon wir gerade sprechen. Das Thema Marke ist in den allermeisten Chefetagen deutlich unterrepräsentiert. Die Prägung der Marke überlässt man in Deutschland lieber den Produkten und Leistungen. Ohne strategische Überlegungen. „Made in Germany“ war ja gegeben. Wenn Produkte aber nicht mehr die welt- weite Spitze darstellen und Leistungen kaum noch funktionieren, dann wird daraus schnell ein Markenproblem.

 

Was würde eine professionell geführte Unternehmensmarke jetzt tun?

Zuallererst: Markenbewusstsein schaffen und sich um die eigene Marke kümmern. Die Hausaufgaben, die man viel zu lange sträflich vernachlässigt hat, so schnell wie möglich nachholen. Sprich: den Status der Marke in den sich verändernden Rahmenbedingungen realisieren und akzeptieren. Und daraus folgend schonungslos analysieren, wie sich diese Rahmenbedingungen aktuell auf die Unternehmensmarke Deutschland auswirken. Kein Schönreden, es gilt Ingeborg Bachmanns Aussage: Die Wahrheit ist dem Menschen zumutbar.
Die Ergebnisse dieser Analyse bilden die Grundlage für den Ausblick auf die Zukunft des Unternehmens Deutschland: Wofür könnte der geniale Claim „Made in Germany“ künftig stehen? Welche Chancen ergeben sich für die Marke im derzeitigen Szenario? Welche Technologien können „Made in Germany“ in die Zukunft tragen? Zur Beantwortung dieser Fragen sind Parteiprogramme und Ideologien keine guten Grundlagen. Es geht um das Einschätzen von Fakten und darum, die für das Unter- nehmen richtigen Rückschlüsse zu ziehen. Diesem Ziel ist nicht alles, aber ziemlich viel unterzuordnen. Wenn es darum geht, womit man in Zukunft in der Welt Erfolg haben will, kann man sich viel ausdenken. Die entscheidenden Fragen lauten aber: Was braucht die Welt wirklich? Was traut man unserer Marke zu? Was kauft man uns am Ende ab?
Sind die Antworten gefunden, baut man der Marke die strategische Grundlage. Es passiert jetzt also alles, was man bisher nicht gemacht hat. Das Unternehmen Deutschland bekommt eine für sich selbst und für die Welt relevante, eindeutige, differenzierende, attraktive Markenidenti- tät. „Made in Germany“ wird inhaltlich definiert und es werden Regeln dazu formuliert. Am besten wird eine Vision dar- aus. Mit der dazu passenden Mission. Die Marke wird sich, je nach Philosophie, die Sinnfrage stellen, ihr Why, How and What neu definieren. Sie wird sich repositionieren, ihre Value Proposition als Arbeitgeber und als Anbieter überdenken, sie wird letztendlich ihre Marktposition verändern, neue Produkte und Leistungen platzieren. Die Ergebnisse des Markenrelaunchs münden in eine Planung, die für jede Abteilung des Unternehmens, für alle Beteiligten, die für diesen Wandel not- wendigen Projekte aufsetzt, beschreibt, mit einem Zeitrahmen versieht. Die Projekte werden entsprechend ihrer Dringlichkeit für den Change gestaffelt auf- und umgesetzt. Über den Stand der Dinge stimmen sich die Unternehmensführung und die Verantwortlichen aus den Abteilungen regelmäßig ab, die Belegschaft wird ebenso regelmäßig dazu informiert. Denn: Es ist unabdingbar, das Vertrauen der Menschen zurückzugewinnen. Zum einen mit einem echten, glaubwürdigen Schulterschluss der bislang nicht gerade an einem Strang ziehenden Führungskräfte. Am besten zieht sich dieser Schulterschluss durch sämtliche Hierarchien und Gremien des Unternehmens. Zwei- tens: maximale Transparenz im Handeln und der Kommunikation. Sowohl die Planung als auch die operative Umsetzung des Wandels werden von umfangreichen Kommunikationsmaßnahmen begleitet, die sich an Mitarbeitende und Kunden richten. Beiden werden die Inhalte der neuen Marke vermittelt, was sie ab jetzt attraktiv und begehrenswert macht, welche Vorteile und besonderen Nutzen sie bietet. Am Ende des Wandels steht eine neue Marke, die agil genug ist, um in sich permanent ändernden Zeiten mit sich permanent ändernden Ansprüchen immer dieselbe zu bleiben. Eine Marke, die nicht nur Versprechen gibt, sondern sie auch hält. Die auch unter schwieriger werdenden Umständen Menschen an sich bindet. Die so attraktiv ist, dass sie Kunden und Mitarbeitende anzieht. Und weil Unternehmensmarken oft genug das Phänomen erleben, Erwartungen, die an sie herangetragen werden, Produkte und Leis- tungen, die sie liefern sollen, nicht allein bewerkstelligen zu können, schmiedet man Allianzen. Aber erst dann, wenn man weiß, wer man selbst sein will.

 

Nationenmarken sind keine Unternehmensmarken. Schon klar

Aber vielleicht können Nationenmarken etwas vom Verhalten der Unternehmensmarken lernen. Sich zu verändern, sich der veränderten Anforderungen überhaupt mal bewusst zu werden, persönliche und sonstige Interessen einem Ziel unterzuordnen, die neuen Rahmenbedingungen zu akzeptieren und sich bestmöglich darauf einzustellen zum Beispiel. Angesichts der wirklich großen Herausforderungen, vor denen wir stehen, ist es wahrscheinlich sogar ein Muss, sich anderen, ungewöhnlichen Herangehensweisen gegenüber offen zu zeigen: analysieren, markenstrategisch neu ausrichten, umsetzen. Und möglichst schnell verlorenes Vertrauen wieder herstellen. Es wirkt tatsächlich dramatisch, dass große Teile der Bevölkerung den für die Performance der Marke verantwortlichen Menschen in Politik, Wirtschaft und Gesellschaft schlicht und einfach nicht mehr zutrauen, die Nation durch diese außergewöhnlichen Zeiten zu navigieren. Einfach weiterzumachen wie bisher, bringt
also niemanden weiter. Völlig Neues zu unternehmen, anders zu denken und zu handeln, könnte dagegen etwas ändern. Man dokumentiert glaubhaft, die Zeichen der Zeit erkannt zu haben. Man sorgt für einen Schulterschluss. Exakt so, wie man es mit einem in Schieflage geratenen Unternehmen tun würde. Dieser Schulterschluss darf sich keinesfalls in Symbolik erschöpfen, er muss sich in Handlungen dokumentieren. Wir leben in einer Demokratie, deren wesentliche Merkmale Meinungsvielfalt und Meinungsfreiheit sind. Aber es gibt eine Grenze zwischen Meinungsvielfalt, Meinungsfreiheit und überflüssigem Streit aufgrund anscheinend unüberbrückbarer Gegensätze. Die Menschen haben dafür ein sehr feines Gespür. Es geht um Einigkeit, um eine damit einhergehende andere, neue, zeitgemäße Haltung. Letztendlich um Professionalität. Es geht darum, in einer vielleicht noch nie da gewesenen Übereinstimmung die Themen dieser Zeit zusammen aktiv anzupacken und zu gestalten. Über alle Grenzen, Interessen und Ideologien hinweg. Das klingt unmöglich und ist es wahrscheinlich auch. Aber nur so lange, bis man sich darüber klar wird, wie groß und drängend die Themen sind, die unsere Nationenmarke und die Menschheit zu bewältigen haben. Ganz im Sinne der Aussage von McKinsey & Company, die für den Abschluss leicht verändert wurde:
Wollen Nationenmarken einen echten Wertbeitrag für ihr Land liefern, müssen sie attraktive Visionen formulieren und nachhaltige Markenerlebnisse schaffen, die sich im Wettbewerb von anderen Nationenmarken abheben und Menschen gewinnen. Kurz: In der VUCA-Welt gewinnen auch Nationen- marken für die Menschen enorm an Bedeutung. Höchste Zeit, sich mit der wertvollsten Marke, die wir haben, zu beschäftigen. Höchste Zeit für Deutschland.

Autor
Jörg Dambacher
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