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11.03.2024

Im Gespräch mit dem Psychologen Stephan Grünewald über den Umgang der Deutschen mit Krisen

Eine aktuelle Studie des Kölner rheingold Instituts mit dem Titel „Deutschland auf der Flucht vor der Wirklichkeit“ attestiert den Bundesbürger*innen vor allem eines: den Rückzug ins Private und das Verdrängen der Realität. Wie passt das zu einer Welt, in der es anscheinend an allen Ecken große zu lösende Aufgaben gibt? Wovor haben die Deutschen Angst? Und was bedeutet es für die Entwicklung einer Gesellschaft und deren Wirtschaft, wenn immer mehr Menschen nur nach sich selbst schauen? Darüber konnten wir mit dem Psychologen und Institutsgründer Stephan Grünewald sprechen.

Stephan Grünewald

geboren 1960 in Mönchengladbach, ist Psychologe, Marktforscher und Autor. Nach dem Psychologiestudium an der Universität Köln, unter anderem bei Prof. Wilhelm Salber, gründete er 1987 das rheingold Institut (erst ab 1997 unter diesem Namen) und hat seither Kunden aus zahlreichen Branchen und Fachgebieten betreut. Ferner ist Grünewald auch publizistisch tätig, schrieb mehrere Bestseller und ist regelmäßig in verschiedenen Print-, Funk- und TV-Medien vertreten. 2020 war er Mitglied im Expertenrat Corona von Nordrhein-Westfalen.

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Was war der Anlass Ihrer Studie?

RTS

Wir haben für die auftraggebende Identity Foundation bereits zuvor Studien gemacht, unter anderem zum Selbstverständnis der Deutschen. Wir wollten wissen, was ihre Identität auszeichnet. Vor zwei Jahren untersuchten wir in einer weiteren Studie, wie die Deutschen in die Zukunft blicken. Nach dem Ausbruch des Ukraine-Kriegs haben wir uns dann gemeinsam verstärkt gefragt, worin die Leute denn die Zuversicht finden, trotz dieser vielen Krisen den Kopf über Wasser zu halten.

SG

War der Ukraine-Krieg nach mehreren Jahren Corona einfach ein Schlag zu viel?

RTS

Psychologisch ist das folgendermaßen interessant: Corona war zunächst mit großen Ohnmachtsgefühlen verbunden. Wir waren plötzlich von einem Virus umgeben, das wir nicht riechen, sehen oder schmecken konnten. Keiner wusste, was zu tun ist. Dann hat man aber sehr schnell zur Handlungsfähigkeit zurückgefunden. Desinfizieren, Abstand halten, Maske aufziehen. Die Leute haben ihre eigene Corona-Philosophie entwickelt. Es gab unterschiedliche Lager, wir sind schnell in eine Polarisierung geraten. Dennoch hatte jeder ein gefestigtes Weltbild, wie man mit der Bedrohung fertig wird. Die einen durch extreme Abschottung – es gab ja Menschen, die fast die China-Diktatur gefordert haben. Andere wollten es laufen lassen wie eine normale Grippe.
Die Fixierung auf Corona führte zu der Hoffnung: Es gibt nur noch dieses eine Problem. Jede Talkshow handelte davon. Und wenn wir das Problem in den Griff kriegen, dann sind wir mit allen Problemen fertig. Diese Erlösungshoffnung hat sich aber nicht bestätigt. Als Corona austrudelte, kamen dann plötzlich neue Themen wie der Ukraine-Krieg mit der Energiekrise auf den Tisch. Auch in Anführungszeichen alte Probleme wie die Klimakrise oder Inflationssorgen wurden wieder relevant.

SG

Der Auftraggeber der Studie ist eine gemeinnützige Stiftung. Hat es Sie überrascht, dass der Auftrag nicht aus der Wirtschaft kam?

RTS

Da es schon die dritte Studie mit der Foundation war, hielt sich die Überraschung in Grenzen. Wir waren schon eine längere Zeit mit der Stiftung im Gespräch, weil uns insbesondere interessierte, wie man aus diesem deutschen Pessimismus ausbrechen kann. Mal zu gucken, ob es überhaupt noch Quellen der Zuversicht in Deutschland gibt. Und als Stiftung, die sich mit dem Selbstbild und der Identität des Landes und dessen Menschen auseinandersetzt, ist man natürlich gut beraten, sich einmal tiefenpsychologisch mit dieser Frage zu befassen. Der Identity Foundation ging es auch gar nicht darum, dass wir Empfehlungen aussprechen, sondern einfach um das Verstehen.

SG

Die Studie trägt den Titel „Deutschland auf der Flucht vor der Wirklichkeit“. In der Tierwelt heißt es, dass man entweder kämpfen, fliehen oder sich tot stellen kann. Haben die Deutschen keinen Bock mehr auf Kämpfen?

RTS

Die Deutschen sind dann bereit zu kämpfen, wenn sie eine Vorstellung davon haben, was sie in einem Kampf ausrichten können. Wir kämpfen ja an verschiedenen Fronten. Die Viren bei Corona konnten wir nicht sehen, aber im Kampf um den Schmutz in unserer Wohnung sehen wir die Erfolgserlebnisse. Das große Problem ist, dass viele Krisen mit einer Ohnmachtserfahrung zu tun haben. Man ist in ei- nem Machbarkeitsdilemma und weiß gar nicht, was man selbst ausrichten kann. Es gibt aber eine große Sehnsucht, etwas zu bewegen. Die Energiekrise war eine, die nicht mit einem Ohnmachtsgefühl verbunden war, weil sie in unserem Alltag stattfand. Man konnte immerhin sagen, ich drehe jetzt mit meiner Hand am Thermostat. Die Kampagne des Wirtschaftsministeriums und die Appelle haben am Ende ja tatsächlich dazu geführt, dass 21 % Energie gespart worden ist. Was dann weniger gut gelaufen ist, das habe ich nach meiner Einladung nach Mese- berg auch gegenüber dem Kanzler angemerkt, ist das Feiern dieser Leistung. Die Politik hätte sich mit Respekt und Dankbarkeit an die Bevölkerung wen- den müssen. In die Richtung „Klasse, wie wir das im letzten Jahr gemeistert haben“.

SG

Eine zentrale Erkenntnis der Studie ist, dass zwei Drittel der Deutschen ihrer Regierung nicht mehr trauen. Was sagt das über eine Nation aus, die so stolz auf ihre Demokratie ist?
 

RTS

Man ist ja immer geneigt, sehr schnell einen Schuldigen zu definieren. Als Psychologe bin ich dazu an- gehalten, die Dinge von beiden Seiten zu betrachten: Es gibt eine Mitverursachung der Regierenden, dass es ihnen nicht gelingt, in Krisenzeiten eine gemein- same Linie zu entwickeln und der Bevölkerung da- mit Orientierung zu geben. Der Streit, besser gesagt Zank in der Koalition wird von den Wählerinnen und Wählern überhaupt nicht goutiert, weil man gerade in einer Krisensituation hofft, dass die politischen Eltern zusammenstehen und eine gemeinsame Linie vorgeben. Wenn das nicht geschieht, zerstört das Vertrauen.
Zum anderen erleben wir angesichts der vielen Krisen, dass die Menschen zwischen ihrer privaten und der politischen Welt einen Verdrängungsvorhang spannen. Das meinen wir mit „Flucht vor der Wirklichkeit“. Sie versuchen weitgehend das auszublenden, was da draußen an Endzeitstimmung und Krisen tobt. Sie gucken weniger Nachrichten und achten gar nicht auf die Leistungen der Koalition. Man muss fairerweise sagen, dass auch so was ausgeblendet wird. Jetzt kommt der entscheidende Mechanismus:
Man rechtfertigt seine Ausblendung pauschal damit, dass man sagt: „Die machen eh nur Blödsinn, da muss ich gar nicht hingucken.“ Wir sind da in einem gewissen Teufelskreislauf. Je mehr wir die Wirklichkeit ausblenden, desto mehr verfestigt sich die Legitimation dieses Verhaltens, sich nicht mehr mit den Problemen zu befassen.

SG

Es gibt kein gemeinsames Bild, was der richtige Weg ist.

Hat sich das Interesse an Politik und auch am eigenen politischen Handeln verschlechtert? Mit Fridays for Future oder der Letzten Generation gibt es ja durchaus aktive Akteur*innen.

FB

Das ist aber nicht die breite Masse. Es gibt kein gemeinsames Bild, was der richtige Weg ist. Bei der Flutkatastrophe im Ahrtal wusste jeder, was der richtige Weg ist: Anpacken! Die Hilfsbereitschaft war groß. Aber das Dilemma der Ampel ist, dass man sich nicht zu einem gemeinsamen Weg durchringen kann und deshalb auch keinen kommunizieren kann.

SG

Welche Ängste haben die Deutschen?

FB

Wir haben in der Studie unterschiedliche Ängste identifiziert. Die Grundangst ist der Autonomieverlust, das Gefühl, wieder ohnmächtig zu sein. Die zweite Angst ist die soziale Entzweiung. Man merkt, der Ton wird rauer, die Aggressivität im Miteinander steigt. Mit Blick auf den Standort Deutschland fürchtet man sich vor einem Substanzverlust. Die Marke Deutschland schillert und glänzt nicht mehr, sondern ist in einem Erosionsprozess. Die Infrastruktur ist marode, die Schulgebäude sind runtergewirtschaftet, bei der Digitalisierung hinken wir hinterher, die Bundeswehr scheint nicht einsatzfähig zu sein. Selbst beim Fußball, wo wir sonst immer ins Halbfinale gekommen sind, scheiden wir früh aus. Das verdichtet sich zu einem Bild, dass wir nicht mehr stolz auf unser Land sein können. Sie sprachen eben Fridays for Future an, aber der globale Klimawandel ist laut unseren Ergebnissen erst der vierte Angstkreis. Der soziale Substanzverlust beschäftigt die Menschen derzeit mehr.

SG

Weil uns andere Probleme einfach näher und greifbarer erscheinen?

FB

Genau. Die Bewegung ist ja: Wir gehen in unser eigenes Schneckenhaus. Und alles, was unseren Schneckenhaus-Alltag tangiert, wird wahrgenommen und macht auch Angst. Die Inflation und ein drohender Blackout im Winter beschäftigen die Leute viel mehr als diese Probleme da draußen irgendwo in der Welt. Die kann man leicht ausblenden.

SG

Könnte man also sagen, dass die Deutschen egoistischer geworden sind?

FB

Wir haben in unserer Studie parallel zu den Ängsten auch verschiedene Quellen der Zuversicht ausgemacht. Und die sind in der Tat alle sehr selbstbezogen. Die erste ist die Selbstmodellierung. In einer komplexen Welt wird das eigene Ich zum Drehpunkt. Hier habe ich Selbstwirksamkeit, hier habe ich was im Griff. Mache Bodybuilding, ernähre mich vernünftig, mache Yoga oder was auch immer. Die zweite Quelle ist die eigene Wohlfühloase, das erweiterte Ich. Mein schönes Zuhause, das gepflegt, weiter ausgebaut und verschönert wird. Auch die Urlaubsparadiese, in die wir fliegen, gehören dazu.
Die dritte Quelle der Zuversicht sind die sozialen Bollwerke, die Freundeskreise, die uns umgeben. Diese werden allerdings immer hermetischer. Die Menschen beschreiben uns, dass sie anfangen Leute auszusortieren, die anstrengend sind oder eine andere Meinung haben. Dann muss man sich mit denen nicht mehr auseinandersetzen. Das ist natürlich für eine Demokratie, die auf Perspektivwechsel und Verständnis baut, schwierig. Die viel gerühmte Solidarität findet nur noch in den Silos statt, deshalb spreche ich inzwischen gerne von einer „Silodarität“. Solidarität haben wir nicht mehr.

SG

Fehlt den Deutschen einfach eine Vision für die gesamte Gesellschaft, wenn sie nur an sich selbst arbeiten?

FB

Ja, sie fehlt. Viele Menschen blicken nicht nach vorne und haben kein Gefühl dafür, was die Zukunft Positives bringen kann. Die sogenannte Zeitenwende ist bei den Menschen noch nicht angekommen. Die Menschen wähnen sich eher in einer Art Nachspielzeit und hoffen, dass die Zustände, die sie kennen, noch etwas erhalten bleiben. Da ist gar keine Auf- bruchsstimmung. Dieses visionäre Vakuum wird eher mit einem Retro-Trend gefüllt. Wir blicken in den Rückspiegel und füllen das Vakuum mit der Geborgenheit der 70er-, 80er-, 90er-Jahre. Auch eine Partei wie die AfD verspricht die Rückkehr in die alte Beschaulichkeit, als es noch die D-Mark gab und die Welt scheinbar in Ordnung war. Weil es gerade kei- nen visionären Zündfunken gibt, erleben wir aktuell eher eine passiv-resignative Haltung.

SG

Die Studie identifizierte jedoch auch Erlösungshoffnungen.

FB

Ja, diese hemmen aber auch das Handeln. Man vertraut darauf, dass Technologien wie die Künstliche Intelligenz alle Probleme lösen werden. Eine weitere Hoffnung ist das Vertrauen in folgende Generationen, die für uns schon alle Probleme irgendwie beseitigen werden. Die dritte, dafür steht auch die AfD, ist das Definieren von Schuldigen. Wenn wir die vom Hof jagen, sind wir erlöst. Wir bezeichnen diese Punkte in unserer Studie auch als Transformations- Hemmnisse.

SG

Blicken wir in die Wirtschaft, denn als Bürger*innen sind wir ja auch Arbeitnehmer*innen. Was bedeutet es für eine Ökonomie, wenn alle nur Angst haben?

FB

Wir haben in der Wirtschaft einen ähnlichen Mechanismus. Der Rückzug ins Schneckenhaus findet im Berufsleben über das Homeoffice statt. Wir haben vergangenes Jahr eine Studie darüber gemacht, was Mitarbeitende an Unternehmen bindet. In diesem Rahmen konnten wir feststellen, dass nach der Coronazeit zwei Drittel der Mitarbeitenden innerlich schon gekündigt hatten. Das heißt, die Verbindung zu den Unternehmen ist porös geworden. Das hängt für mich auch mit dem Homeoffice zusammen, da man die Werte und die Dynamik eines Unternehmens nicht mehr live inhaliert und auch nicht mehr in den Teamstrukturen verankert ist. Man sitzt sehr effizient und teils auch dekadent im Eingemachten, arbeitet vor sich hin. Damit verschwindet die Identifikation mit dem Unternehmen und es findet auch weniger Zuspruch statt. Es kommt seltener jemand und klopft einem auf die Schulter. Deshalb plädiere ich auch dafür, dass zur Stärkung der Arbeitsmoral Vorgaben zum Homeoffice notwendig sind. Drei Tage vor Ort halte ich für angemessen, allein um den inneren Schweinehund zu überwinden. Der bleibt nämlich im Zweifel lieber zu Hause, aber wenn er sich dann aufmacht, ist er auch froh, wieder unter Menschen zu sein.

SG

Die Marke Deutschland schillert und glänzt nicht mehr, sondern ist in einem Erosionsprozess.

Welchen Einfluss sehen Sie in der Verlagerung von immer mehr Lebensbereichen ins Digitale?

FB

Entscheidend ist, dass wir Dehnungsfugen haben. Das ist eine Voraussetzung für Kreativität. Wir sprechen jetzt gerade digital miteinander, aber ich bin heute mit dem Fahrrad ins Büro gefahren. Habe mitbekommen, dass sich die Jahreszeit ändert. Bin Menschen begegnet. Im Homeoffice bin ich Gefangener meiner Selbstbezüglichkeit. Da fällt das alles weg. Ich drohe zu vereinsamen, mich weiter zu entwirklichen. Kreativität und Erfindungsgeist, also das, was Deutschland mal ausgezeichnet hat, entstehen allein in der Auseinandersetzung mit der Welt. Des- halb sind diese Dehnungsfugen, die Flurgespräche, die Kantinenausflüge, so wichtig, weil das etwas Inspirierendes hat.

SG

Im Homeoffice bin ich Gefangener meiner Selbstbezüglichkeit.

Welche Rolle spielt Social Media im Stimmungsbild der Menschen?

FB

Die sozialen Medien sind ja mal mit dem Versprechen angetreten, die Aufklärung zu vollenden, da je- der Zugriff auf alles hat. Durch Algorithmen geraten wir aber immer mehr in die Situation, dass mir nur das gezeigt wird, was mich sowieso schon interessiert. Wir sind in einer narzisstischen Selbst-Spiegelung gefangen. Außerdem findet eine dialogische Verkürzung durch schnelle Headlines und Kommentare statt. Wenn wir gemeinsam in einem Raum diskutieren würden, gäbe es gewisse Höflichkeitsstandards. Ich würde Sie ausreden lassen, auf Ihre Perspektive eingehen. Das fällt in Social Media weg. Ich nenne das, was die Leute in sozialen Medien machen, Affekt-Masturbation. Irgendwas ärgert die und dann hauen sie das ohne Rücksicht raus. Was natürlich dazu führt, dass die andere Seite zurückschießt. Das wirkt wie ein Brandbeschleuniger, aber eine tolerante Grundhaltung lässt sich nicht erkennen.

SG

Ich nenne das, was die Leute in Sozialen Medien machen, Affektmasturbation.

Mit welchen ganz persönlichen Gefühlen blicken Sie auf die Studie?

FB

Ich bin zuversichtlich. Als Psychologe habe ich die Erfahrung gemacht, dass Veränderung und Aktivierung oft nur dann in Gang kommen, wenn es einen Leidensdruck und eine Krisenerfahrung gibt. Bei vielen Leuten erleben wir diesen akuten Leidensdruck noch nicht. Stichwort Nachspielzeit, es könnte schlimmer werden, aber es gibt ja immer noch den Doppel-Wumms, der doch noch irgendwie abmildern könnte. Das Hochwasser, die Energiekrise haben gezeigt: wenn es ein Etappenziel gibt, bei dem man anpacken kann, sind wir wandlungsfähig. Die Deutschen haben von ihrem Naturell her eine gewisse Unruhe und Gestaltungsfreude in sich, die aber kanalisiert werden will. Wenn es, auch seitens der Politik, wieder klarere Ziele gibt, erwächst auch wieder die Bereitschaft, die Zukunft mitzugestalten.

SG
Autor
Felix Bürkle
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