Lieber Mario, warum brauchen Unternehmen und Agenturen auch heute, also im Zeitalter von ChatGPT und Co., einen Kreativcoach? Diese Frage beantworte ich am besten, indem wir erst mal darauf schauen, was ich bisher ge- macht und erlebt habe, vor allem auf Unternehmensseite. Man hat mir gesagt, man wolle was zum Thema Kreativität haben. Überraschenderweise ging es aber die allermeiste Zeit um Strategie. Da ist immer der größte Aufwand reingeflossen, also bevor wir überhaupt zu Ideen gekommen sind. Herauszufinden, was ich überhaupt will und wie ich das am besten formuliere. Und wenn wir dann begonnen haben, mit Kreativität zu arbeiten, dann hat es noch einmal ziemlich lange gedauert, bevor die Leute losgelassen haben im Kopf, aus ihren Konventionen aus- gestiegen sind, bereit waren, Regeln innerhalb ihres Teams zu brechen. Weil beim Regelbruch ja immer die Gefahr besteht, sich zum Narren zu machen, als Idiot dazustehen, verrücktes Zeug zu reden, von der Norm abzuweichen. Und das ist das, wovor wir alle als angepasste, weil sozialisierte Wesen große Angst haben. Das Verrückte ist übrigens: Mit ChatGPT und anderen Programmen schaffe ich das innerhalb weniger Sekunden (lacht). ChatGPT hat keine Angst davor, sich zum Idioten zu machen. Der nächste Aspekt ist das, was bei der Kreation herauskam, das Er- gebnis. Also bei Agenturen waren die Ergebnisse im Schnitt immer besser. Warum? Die haben professionelle Kreative, die sind in Ideen- entwicklung trainiert und von Berufs wegen eher bereit, Konven- tionen zu brechen. Auf Unternehmensseite war es so, dass der erste Ideenoutput in der Regel zu 90 Prozent aus Klischees bestand. Also Dinge, die es eigentlich schon gab, die man schon mal irgendwo gesehen hatte. Diese bekannten Dinge wurden sozusagen als eigene Ideen reproduziert. Es waren ganz wenige originelle Ergeb- nisse dabei. Im Moment beschäftige ich mich damit, durch intelligente Prompts, es gibt ja den Begriff des Prompt-Engineerings, der Maschine so präzise wie möglich zu sagen, was sie tun soll. Ich gebe detaillierte Anweisungen, wie sie denken soll. Und dann schaffe ich es, dass mir dieses Ding zehn Ideen liefert, die weit über dem Schnitt dessen sind, was mir in der Regel die Teams bieten. Wenn ich auf die letzten 19, 20 Jahre zurückblicke, dann gibt es zweifellos hochtalentierte Kreative, die ganz bewusst Ideen auf Knopfdruck auf einem sehr, sehr hohen Niveau entwickeln können. Mit echtem Neuigkeitswert, emotional, überraschend, verblüffend, witzig. Das sind maximal drei bis sieben Prozent meiner Teilnehmer gewesen. Also um deine Frage zu beantworten: Diese drei bis sieben Prozent haben mich vielleicht noch nie gebraucht, die anderen brauchen mich eventuell jetzt, um nicht mehr ihren Kopf, sondern die Maschine dazu zu bringen, genau das zu tun, was sie wollen und was strategisch notwendig ist. „ ChatGPT hat keine Angst davor, sich zum Idioten zu machen.“ Ich denke, man muss bei dieser Betrachtung sehen, wer zu dir in die Kreativitätstrainings kam. Wir haben zum Beispiel oft Menschen zu dir geschickt, die gar nicht in kreativen Berufen arbeiten, weil wir wollten, dass sie ein Verständnis für den Prozess entwickeln und verstehen, was wir verkaufen. Wir wollten, dass sie die Entwicklung unseres Kernprodukts erleben und begreifen. Das ist es, ja. Und das wird vielleicht auch heute noch notwendig sein, das anzubieten. Ich selbst habe übrigens auch von dir gelernt, wie wichtig die Strategie im Kreationsprozess ist. Welches Ziel will ich bei welchen Menschen erreichen? Wie schaffe ich das am effektivsten? Und als ich mich dann bewusst mit Kreationstechniken beschäftigt habe, ist mir aufgefallen, dass man es ganz oft mit Check listen zu tun hat. Ich denke zum Beispiel an die zehn Osborne-Fragen oder 101 ways to get an Idea. Ja, das sind Regieanweisungen für den Kopf. Also auf dem Zettel steht zum Beispiel drauf: „Mach es groß, mach es riesig, mach es mega.“ Aber du musst dann immer noch die Fähigkeit als Kreativer besitzen, diese Regieanweisung außergewöhnlich umzusetzen. 15 L E I T A R T I K E L