Ohne CX war alles nix

Marke People Data & Tech Lifestyle
18.05.2021

Customer Experience ist in aller (Marketing-)Munde. Strategien werden entwickelt. Konzepte ausgesponnen. Erlebniswelten erschaffen. Touchpoints aufgemöbelt. Künstliche Intelligenzen betüddeln Menschen aus Fleisch und Blut. Algorithmen machen die Customer Journey zur Abenteuerreise. 

Ein ganz neuer Branchenzweig ist entstanden. Ist das jetzt alles so neu? Mitnichten! Manche Unternehmen und Unternehmer haben schon lange und ganz ohne Strategie für unvergessliche Kundenerlebnisse gesorgt. Ein paar Beispiele aus dem Zufallsgenerator.

Gelbwurst macht glücklich

Als Kind konnte man mich noch mit 10 Gramm gepressten Tierleichenteilen beeindrucken – in Form eines Rädchens Gelbwurst (mein Gott!), das mir von der stets rotbackigen Fleischereifachverkäuferin unseres Dorfmetzgers über die Theke gereicht wurde. Diese frühkindliche Customer Experience war im besten Wortsinn nachhaltig. Denn als ich Jahrzehnte später für ein Klassentreffen wieder an den Ort meiner ersten Lebensjahre zurückkehrte, kaufte ich das Fleisch für die Grillparty selbstverständlich bei besagter Metzgerei ein. Auch wenn ich als Erwachsener keine Gelbwurst mehr gereicht bekam (ein Verlust, den ich verschmerzen konnte). Geschweige denn, dass die Rotbackige noch da gewesen wäre.

Apropos Rotbackige: Natürlich wusste meine Wohltäterin von damals noch nichts über CRM, Customer Experience, Brand Experience oder ähnliche Errungenschaften moderner Kommunikation. Für sie war jener Akt der Aufmerksamkeitsschenkung selbstverständlich. Vielleicht weil sie selbst als Kind diese Erfahrung gemacht hatte. Oder weil sie es von einer Kollegin abgeguckt hatte.

Auch viele andere Unternehmen und ihre Mitarbeiter tun scheinbar selbstverständlich Dinge, die bei ihren Kunden und Geschäftspartnern nachhaltig Eindruck hinterlassen.

Dem Kunden eins reinsingen

Konsul H. W. Fein kommt mir da in den Sinn, der ehemalige Eigentümer des Elektrowerkzeuge-Herstellers FEIN. Wenn dieses schwäbische Unternehmerurgestein unterwegs war, hatte es stets ein paar Exemplare des von ihm persönlich zusammengestellten Büchleins mit „Jagd- und Hüttenliedern“ dabei. Egal, wo er sich gerade befand, im Flugzeug, auf einer Messe oder vor Ort beim Kunden, verschenkte Fein dieses Büchlein. Und nicht selten wurde zu fortgeschrittener Stunde auch gemeinsam daraus gesungen.
Im Anhang der bodenständigen Song-Compilation fand sich übrigens eine Übersicht über wichtige Maßeinheiten. Neben Watt, Volt und Co. war auch das „Viertele“ aufgeführt, die Maßeinheit für 0,25 Liter schwäbischen Weins – vorzugsweise Trollinger. Deshalb verschenkte Konsul Fein zusammen mit der Liedgutsammlung gerne auch das mit dem FEIN Logo gebrandete typische Vierteles-Glas.
Eine ganz spezielle Customer Experience, die viele seiner Kunden und Geschäftspartner (so auch der Autor dieses Artikels) nie vergessen haben. Und für deren Etablierung sicher keine fünf strategischen Workshops notwendig waren.

CX mit dem Godfather of Soul

Oder nehmen wir die Kirche als Ort von Customer Experience. Auch wenn es schwerfällt: Blenden wir für einen Moment mal die widerlichen Ereignisse um die nach wie vor schwelenden Missbrauchsskandale aus. Auch schon ohne diese Verbrechen laufen nicht nur der katholischen Kirche seit geraumer Zeit die Kunden in Scharen davon. Warum? Weil mit der jahrhundertealten Liturgie junge Menschen, die auf Smartphones starren, nicht mehr hinter dem elterlichen Designer-Heizkamin hervorzulocken sind. Denn beim Gottesdienst sitzt man galeerengleich auf unbequemen Holzbänken in oft schlecht beheizten Kirchenschiffen. Man hört Musik, die nicht selten dazu angetan ist, labile Gemüter in eine Depression zu stürzen. Und man lauscht Reden (Predigten genannt), die einen den Kampf gegen das Wegschnarchen verlieren lassen. Ja, sicher, es gibt auch Geistliche, die versuchen die althergebrachten Rituale durch den Einsatz von Beamern und elektrischen Gitarren oder mittels interaktiver Einbeziehung des Publikums etwas aufzupimpen. Aber hey, auch damit hinken sie der Realität um Jahre hinterher.

Wie es seit jeher ganz ohne große CX-Strategie besser geht, zeigt ein Blick in die amerikanischen Gospel-Gottesdienste. Die Erfahreneren unter den Lesern erinnern sich vielleicht an den Film „Blues Brothers“ von 1980 und da an die Szene, in der kein Geringerer als der Godfather of Soul, James Brown, den Pfarrer und Einheizer gibt, während die versammelte Black Community in ekstatischer Verzückung um den Altar tanzt. Als Beobachter des Geschehens zeigt sich der adipöse James Belushi alias Jake Blues von dieser CX so beeindruckt, dass er zu den groovenden Gospelrhythmen eine Flickflack-Serie durch den Hauptgang der Kirche hinlegt. Großartig! Was damals filmisch aufgegriffen wurde, spielt sich noch immer Sonntag für Sonntag real in tausenden von Gottesdiensten statt. Und die Kunden kommen jedes Mal begeistert wieder.

Miriam Makeba des Facility Managements

Dazu fällt mir gleich noch eine ganz persönliche CX ein: Um mit dem Auto auf die pittoreske Insel Sizilien zu gelangen, muss man auch heute noch die Fähre von Villa San Giovanni nach Messina nehmen. Wer schlau ist, kauft sein Ticket schon 60 Kilometer vorher in der Bar der Autobahnraststätte Rosarno Ovest. Hier lohnt in jedem Fall ein Besuch der Sanitäranlagen. Denn mit ein wenig Glück wird man dort von der umwerfenden Gesangsstimme der afrikanischen Toilettenfrau empfangen – eine Miriam Makeba des Facility Managements. Und ein Ort, dem man normalerweise so schnell wie möglich wieder entfliehen möchte, lädt mit der Performance dieser Soul-Power-Frau zum Verweilen und Genießen ein. Praktischer Nebeneffekt: Der Gesang übertönt locker die unangenehmen Nebengeräusche, welche die Verrichtungen, die an einem solchen Ort getätigt werden, natürlicherweise mit sich bringen. Und nach erledigtem Geschäft schnippt man statt der üblichen Knauser-50-Cent-Münze gerne einen Zwei-Euro-Taler aus den Fingern auf den bereitgestellten Teller. Ich gehe aber davon aus, dass die talentierte Frau nicht deswegen singt, sondern einfach, weil sie es gerne tut und damit sich selbst und ihre Kunden – trotz der würdelosen Arbeit in einem garstigen Umfeld – in eine fröhliche Stimmung versetzen möchte.

Der Turmbau zu Jona

Wo wir gerade bei dieser Art von Geschäften sind: Bereits Ende der 1960er Jahre hat der Sanitärbedarfs-Hersteller GEBERIT an seinem Schweizer Stammsitz in Jona ein Monument in Sachen Customer Experience errichtet: den GEBERIT Abwasserturm. Dabei handelt es sich um eine riesige gläserne Wand, an der GEBERIT Berater ihren Kunden und Geschäftspartnern anschaulich die Konsequenzen von fachgerechten und falschen Installationen vorführen können. Alle Installationskomponenten, wie Rohre oder Vorwandsysteme, sind transparent. So kann man zum Beispiel zeigen, wo bei falsch installierten Fallrohren – im wahrsten Sinne des Wortes – die Kacke am Dampfen ist. Von Beginn an war der Abwasserturm zu Jona eine solche Attraktion, dass in der Folge auch am deutschen und italienischen Firmensitz in Pfullendorf und Manno gleichartige Monumente errichtet wurden. Sie ziehen jedes Jahr Scharen von Planern, Installateuren, Auszubildenden und Fachjournalisten an. Und sorgen so für eine beeindruckende Customer Experience.

Ach ja, und sollten Sie den Film „Blues Brothers“ noch nicht gesehen haben, betrachten Sie das als Bildungslücke und holen Sie diese besondere Experience bitte unbedingt nach!

Autor
Ekkehard Haug

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