Warum man manche Customer Experiences besser nicht alt werden lässt.

Ein Lehrstück in zwei Akten

Es ist 2001. Lange haben Sie dem Braten nicht getraut, aber weil mehr und mehr Ihrer Freunde es auch schon tun, wagen Sie es nun selbst: Online-Shopping. In diesem Internet. Ihr erstes Produkt haben Sie sich genau überlegt. Nicht zu teuer sollte es sein – man weiß ja nie bei diesen ganzen Gaunern im Cyberspace. Aber trotzdem soll es Ihre Persönlichkeit unterstreichen und eine gute Geschichte bringen. Ihre Wahl fällt auf einen Kaffeebecher.
Perfekt! Den können Sie mit ins Büro nehmen und beim Kaffeemeeting ganz beiläufig fallen lassen, dass Sie diesen Becher online geshoppt haben. Bei dieser sagenhaften kleinen Tonwaren-Manufaktur in der Toskana, die Sie bei Yahoo gefunden haben.
Und jetzt, nach wochenlangem bangem Warten, ist endlich das Paket aus Italien da. Nervös trennen Sie das Klebeband auf und sind begeistert von dem, was Sie da sehen: jede Menge Styroporflocken. Da hat sich wirklich jemand Gedanken gemacht, wie Ihre Tasse sicher und unbeschadet bei Ihnen ankommt.
Sie wühlen sich durch den Karton und dann halten Sie sie in den Händen: Ihre Beute, Ihre Tasse. Und sie ist sogar noch schöner, als das 0,5-Megapixel-Foto auf der Homepage erahnen ließ.
Sie sind glücklich. Und Sie beschließen, direkt eine positive Rezension auf ciao.de zu schreiben.

The Bad and the Ugly

Es ist 2021. Die Filter aus japanischer Biobaumwolle haben Sie schon. Ebenso wie den programmierbaren Wasserkocher, bei dem Sie die Wassertemperatur per App auf die exakt 89 Grad einstellen können, die Ihr kolumbianischer Hochlandkaffee für die perfekte Entfaltung seiner Koriandersamen- und Zartbitterschokoladearomen braucht. Jetzt fehlt eigentlich nur noch eines: die perfekte Kaffeetasse.
Keine Massenware natürlich, sondern etwas mit Charakter. Etwas, das signalisiert, dass Sie kein Angeberhipster sind, sondern ein echter Genussmensch. Bei Etsy werden Sie zum Glück schnell bei dieser sagenhaften Tonwaren-Manufaktur aus der Toskana fündig. Wunderschön, diese Tasse mit dem rustikalen, zeitlosen Chic. Das warme Braun der Glasur strahlt genau die erdige Verbundenheit aus, die Sie auch bei sich selbst spüren. Praktisch automatisch klicken Sie auf den Bestellknopf und zahlen direkt mit PayPal.
Wenige Tage später halten Sie Ihr Paket in den Händen. Sie ziehen das Klebeband vom Karton ab, öffnen den Deckel und … sind vollkommen entsetzt. Überall kommen Ihnen diese schrecklichen Styroporflocken entgegen! Klar, die Tasse muss geschützt werden. Aber doch nicht so!! Styropor kommt doch direkt aus der Umwelthölle. Kriegen die in der Toskana da nichts mit?!? Unser Planet geht vor die Hunde! Die Müllberge! Mikroplastik! DAVON STERBEN DELFINBABYS!!!!!!!!!!
Völlig außer sich, schnappen Sie sich Ihr iPhone, öffnen Twitter, Instagram und Facebook gleichzeitig, um dann mit dem Hashtag #stopthebabydolphinkiller mal richtig zu eskalieren.

Autor
Kai Helzer

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